Wie Blinde das Internet sehen (aus der FTD)


Aus der Financial Times Deutschland (FTD) vom 14.3.2001

Web-Seiten können schon mit geringem Aufwand auch für sehbehinderte Menschen
optimal gestaltet werden.

Rund eine halbe Million stark sehbehinderter Menschen und etwa 155.000 Blinde
leben in Deutschland. Jeder Dritte ist berufstätig, zumeist in klassischen
Blindenberufen wie etwa Masseur, Physiotherapeut oder Telefonist. Die Entwicklung
behindertengerechter Hard- und Software, die ein nahezu uneingeschränktes
Arbeiten am Computer erlauben, ermöglicht aber in zunehmendem Maße den
Einstieg in andere Berufszweige wie Informatik und Jura.

Voraussetzung für das Arbeiten am Computer ist ein so genannter "Screen Reader",
eine Software, die auf jeden PC geladen werden kann. Sie stellt eine Art
"Übersetzer" zwischen Computer und blindenspezifischen Ausgabegeräten dar
und ermöglicht die Navigation über die Tastatur, die wie bei Sehenden als
Eingabemedium dient. Zusätzliche Hilfen sind Homepage-Reader, die sich
allerdings lediglich für das Surfen im Internet und zum Verschicken von
E-Mails eignen. Sie geben die Texte mit einer synthetischen Stimme über die
Soundkarte aus. Manche Programme wie Jaws und Blindows können sogar mehrere
Sprachen erkennen und vorlesen.

Spezielle Probleme mit der Maus

Allerdings können Homepage-Reader das Layout einer Website nicht erkennen,
so dass Grafiken, Diagramme oder tabellarische Darstellungen keine Chance
haben. Ideal ist deshalb eine Kombination aus synthetischer Sprache und
Braillezeile, ein Ausgabegerät, das an den Rechner angeschlossen wird, um
den Bildschirminhalt in die Braille-Blindenschrift zu übersetzen.
Sie hat den Vorteil, eingerückte Elemente und Tabellen erkennen zu können.
Auch für diese Form des Lesens ist der Screen Reader notwendig. Moderne
Braillezeilen bestehen aus 40 oder 80 so genannten Piezo-Elementen. Dies sind
bewegliche Stifte, die mit der Fingerkuppe ertastet werden. Anders als in der
Blindenschrift, bei der ein Buchstabe aus sechs Punkten besteht, verfügt die
Braillezeile in der Regel über acht Punkte pro Element, um die Darstellung
von Großbuchstaben und Sonderzeichen zu erleichtern. Somit kann der komplette
ASCII-Zeichensatz ohne Einschränkungen dargestellt werden.

Braillezeilen mit 80 Piezo-Elementen sind am komfortabelsten, da die 80
Elemente eine Computerzeile eins zu eins wiedergeben. Mit Kosten von zirka
20.000 DM sind sie aber so unerschwinglich, dass viele auf eine 40er Zeile
zurückgreifen oder ganz auf diese Hilfe verzichten.

Das Benutzen einer Maus - seit der Einführung grafisch orientierter
Nutzeroberflächen eigentlich nicht mehr wegzudenken - bringt für blinde
Nutzer spezielle Probleme mit sich. Neuere Generationen von Braillezeilen
verfügen mittlerweile über "Cursor-Routing", ein Verfahren, dass das Platzieren
des Cursors mitten im Text ermöglicht. Dies geschieht in der Regel mit Hilfe
von Knöpfen, die sich über- oder unterhalb eines Braille-Elements
befinden. Durch das Drücken des Knopfes wird der Cursor an die Stelle des
Bildschirms geschickt, an der sich das dem Knopf zugeordnete Zeichen befindet.
Dennoch ist das Internet für Blinde nicht ohne Tücken. Dies liegt in erster
Linie daran, dass beim Design von Websites zunehmend mit Grafiken, Frames
und Javascript gearbeitet wird, die von den Ausgabegeräten nicht immer in
vollem Umfang erkannt werden.

Zwar können Screen Readers Framelisten aufrufen, doch das erleichtert Blinden
die Navigation nur dann, wenn Frames, Grafiken und Bilder betextet sind -
nur wird dies von Webdesignern aus Unkenntnis meistens nicht bedacht. Der
Marburger Verein "Behinderte in Beruf und Gesellschaft" hat deswegen 1998
den Arbeitskreis "Barrierefreies Internet" ins Leben gerufen. Ziel der
Initiative ist es, den Anbietern von Websites bewusst zu machen, dass ihr
Angebot mit einfachsten Mitteln auch Blinden zugänglich gemacht werden kann,
ohne optische Verluste verbuchen zu müssen. Eine weitere Hilfestellung für
Webdesigner stellen diverse kostenlose Analysewerkzeuge dar, so zum Beispiel
das Programm "Bobby", das auch grafisch orientierte Sites auf
behindertengerechte Darstellung untersucht. "Die Zeiten, in denen Websites rein
textbasiert zu sein hatten, damit Blinde sie lesen können, sind dank der neuen
Techniken vorbei", sagt Ivanka Kobsch, eine 29-jährige blinde Hamburgerin, die
zurzeit ein vierwöchiges Praktikum beim "Stern" absolviert. Das Internet hat
sie schon während des Englisch-Studiums schätzen gelernt. Aber sie kritisiert
auch die mangelnde Navigierfreundlichkeit einiger Websites. So kauft sie im
Internet lieber bei Schlecker als bei Metro ein, denn "bei Metro kann ich
einfach nichts sehen".

Dieser Artikel ist im Internet abrufbar unter der URL:
http://www.ftd.de/tm/it/FTD984489245767.html?nv=nl


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